Kommentar von Dennis Riehle
Wenn man in unsere Politik und die Gesellschaft blickt, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass Cannabis nicht erst seit gestern teillegalisiert ist. Doch nachdem der Bundestag den Weg freigemacht hat für das Gesetz von Karl Lauterbach – und seit diesen Tagen der Anbau in Clubs erlaubt ist, wird sich beweisen müssen, inwieweit man die Bedenken ausräumen konnte, die von vielen Seiten eingebracht wurden. Der wichtigste Einwand kam sicherlich von Fachärzten, welche insbesondere auf die schwerwiegenden Auswirkungen des Konsums von Hanf auf die Entwicklung des Gedächtnisses und der Kognition hinweisen. Denn insbesondere bis zum 25. Lebensjahr reagiert das Gehirn auf einen Drogenkonsum sensibel und mit teils nicht wiederherstellbaren Defiziten. Ich habe über zehn Jahre lang eine Selbsthilfegruppe zu psychischen Erkrankungen geleitet und in diesem Rahmen viele Betroffene mit schwerwiegenden Symptomen aus dem schizophrenen und psychotischen Formenkreis kennengelernt, die sich selbst eingestehen mussten, dass sie bereits im heranwachsenden Alter sehr viel von ihrer mentalen, intellektuellen und geistigen Leistungsfähigkeit einbüßen mussten, weil sie durch „ein paar Züge“ Gras in einen Sumpf der verschiedenen Suchtmittel geraten sind – und damit einen Großteil ihrer Biografie zerstört haben, auf die schiefe Bahn geraten, obdach- und arbeitslos oder gar dauerhaft in entsprechenden Entzugskliniken untergekommen sind. Es ist also insbesondere der erleichterte Einstieg in ein Dasein unter Abhängigkeit, der uns zu denken geben muss. Und diese Zweifel lassen sich auch nicht durch ein falsch verstandenes Freiheitsbestreben entkräften, mit dem die Befürworter um die Ecke kommen. Blickt man auf die verschiedenen Länder, in denen es bereits zu einer Freigabe gekommen ist oder die entsprechende Feldversuche durchgeführt haben, so sind die Erfahrungen ziemlich inhomogen. Wenngleich man an einigen Orten einen leichten Rückgang des Schwarzmarktes beobachten konnte, so hatte eine laxe Drogenpolitik allerdings kaum Auswirkungen auf die Kriminalitätsrate. Die positiven Effekte blieben insofern weitgehend begrenzt.
Entsprechend fragt man sich, warum die Ampel nach den Themen Abstammung oder Selbstbestimmung ein erneutes Gesetz beschlossen hat, das für den Normalbürger im Alltag kaum eine Relevanz besitzt. Gerade unter dem Aspekt, dass die Bundesrepublik im Augenblick offenbar deutlich größere Probleme hat als das emanzipatorische Befinden einer „Bubatz-wird-legal“-Kampagne, kann sich niemand der politisch Beteiligten für solch einen „Erfolg“ eines Nischenanliegens rühmen. Das Drängen auf die Entkriminalisierung von Marihuana hat wenig damit zu tun, dass die bisher restriktive Vorgehensweise in Bezug auf diese sogenannte „Kulturpflanze“ gescheitert sein soll – wie es die Anhänger der Grünen, der FDP oder der SPD vorhalten. Stattdessen hat sich in unserem Wertekanon eine Ideologie der Individualisierung und Liberalisierung zementiert, die in verschiedenen Lebensbereichen die persönliche Disponiertheit von Einzelnen höher gewichtet als den gemeinschaftlichen Anspruch an ein sittliches und ethisches Miteinander unter Einhaltung gewisser Grenzen. Der wiederkehrende Verweis darauf, dass hierzulande auch andere Rauschmittel wie Alkohol und Tabak frei zugänglich sind, kann in diesem Zusammenhang nicht ziehen. Denn aus Fehlern sollte man lernen – und sie nicht wiederholen. Denn wir haben gesehen: Wenn man erst einmal einen Geist aus der Flasche lässt, dann fängt man ihn so leicht nicht mehr ein. Die Dynamisierung beim Konsum legaler Substanzen hat nicht nur zu wiederholten Exzessen auf Jugendpartys und überfüllten Notaufnahmen an den Wochenenden geführt. Stattdessen ist die Zahl der Abhängigkeitserkrankten bei uns schon heute empfindlich hoch. Als Patient in einer Psychiatrie bin ich mehrfach Menschen begegnet, deren Existenz am Boden lag, weil sie der Verlockung dieser Betäubungsmittel nicht widerstehen konnten. Und darin liegt auch die eigentliche Motivation und Begründung, weshalb gerade in modernen Zivilisationen das Verlangen nach dem Joint beständig zunimmt.
Tatsächlich kann man verstehen, dass man bei der aktuellen Lage in der Welt und in unserem Land starke Nerven braucht. Und auch der Leistungsgedanke in der westlichen Hemisphäre trägt dazu bei, dass immer mehr Probleme auf uns einprasseln, die wir nicht mehr zu abzuarbeiten in der Lage sind. Die Reduktion von Stress erfordert eine Arbeit am jeweiligen Charakter, am Lebenswandel, an Erwartungen von innen und außen. Das ist ein zeitaufwendiger und mühsamer Prozess, der vielen Menschen nicht schnell genug geht. Da kann der Griff zu ein wenig Haschisch deutlich zügiger in den Zustand der völligen Gleichgültigkeit führen. Dass wir nicht mehr in der Lage erscheinen, eine seelische Resilienz gegenüber den zweifelsohne komplexer werdenden Bedingungen, Anforderungen und dem eigenen Selbstbild dieser Tage aufzubauen, uns also an neue Bedingungen anzupassen – und deshalb eher den Weg des geringsten Widerstandes gehen möchten -, hängt auch am undogmatischen, toleranten und antiautoritären Mainstream. Doch der Staat kann nicht auf jede Gemütslage von Personen eingehen, welche in der Manier einer Hippie-Bewegung 2.0 den Anspruch auf ein prinzipielles Bekifftsein für sich einfordern. Sondern er hat insbesondere den Gesundheitsschutz zu beachten. Dieser ergibt sich eindeutig aus dem Grundgesetz, weshalb es auch nicht abwegig erscheint, dass eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zustandekommt. Denn es ist trotz der vielen Beschränkungen und Hürden, die in den jetzigen Beschluss des Parlaments eingebaut worden sind, weiterhin nicht abschließend geklärt, inwieweit das Recht auf die persönliche Entfaltung mit dem Auftrag zur Erhaltung der Konstitution unseres Volkes umfassend und abschließend miteinander abgewogen und einander gegenübergestellt wurden. Dass man sich immanente Traumwelten auch ohne jede Art von Junk ausmalen und ihnen nacheifern kann, darüber können diejenigen ein Lied singen, die sich völlig nüchtern von der Wirklichkeit verfolgt fühlen. Ablenkung, Verdrängung und Entfremdung erfahren zu können – dafür reicht es manchmal schon aus, als Minister dem Kabinett Scholz anzugehören.