Kommentar von Dennis Riehle
Wieviel Beständigkeit braucht eine Zivilisation? Ein wesentlicher Grundstein einer zufriedenen und stabilen Existenz stellt unter anderem die Deckungsgleichheit zwischen dem persönlichen Empfinden einerseits und der nüchternen Betrachtung durch den Außenstehenden andererseits dar. Dass zwischen Subjektivität und Objektivität in einer Epoche größtmöglichen Zeitgeistes eine wachsende Differenz liegt, das hängt nicht zuletzt auch mit einer laxen Erziehung im Alt-68er-Stil, einer wohlgepamperten Sozialisation und einem freizügigen Gesellschaftskonsens zusammen, der uns von einer Minderheit aufgebürdet wird – die sich im Zweifel nicht zu schade dafür ist, mit der Moralkeule um die Ecke zu kommen – wenn es um die Durchsetzung ihrer vermeintlichen Besserstellung geht. Schlussendlich lässt sich kaum eine Nation auf diesem Globus so leicht von einem erhobenen Zeigefinger in die Knie zwingen wie die Deutschen – die sich in fortwährender Angst vor dem Vorwurf der Diskriminierung auf sämtliche Nonkonformität einlassen, obwohl diese nicht selten ihrem sittlichen Gespür diametral zuwiderläuft. Dass der Wokismus in unseren Breiten über so viel Macht und Einfluss verfügt, hängt nicht zuletzt mit einem immer schwächer werdenden Rückgrat derjenigen zusammen, die beim bunten Gegröle über Vielfalt nur deshalb in Deckung gehen, weil sie sich vor der Etikettierung als Intolerante fürchten. Doch genauso, wie sich Wähler, Sympathisanten und Unterstützer der AfD nicht von der haltlosen und plakativen Behauptungen durch den Verfassungsschutz beeindrucken lassen sollten, wonach ihre Partei eine dem Grundgesetz, unseren Werten und der Würde entgegenstehende Kraft aus dem rechtsextremistischen Spektrum sei, gibt es für den Couragierten keinerlei erkennbaren Grund, mit der Auffassung hinter dem Berg zu halten, dass die Schöpfung nun einmal die Binarität als das festgelegte Gerüst der Ursprünglichkeit zementiert hat. Dieses lässt sich auch dann nicht aus den Angeln heben, wenn sich ein Individuum nach dem morgendlichen Aufstehen plötzlich nicht mehr als ein Homo sapiens, sondern als Banane, Schildkröte oder Portemonnaie wahrnimmt.
Der Orientierungspunkt für ein Miteinander kann nicht das Selbstverständnis des Einzelnen sein. Solange wir nicht in anarchischen Zuständen vegetieren, ist jede Gruppe auf eine gewisse Ordnung angewiesen, auf die sich alle Beteiligten verlassen können. Mangelt es hingegen an Leuchttürmen wie dem Konsens über die Zweigliedrigkeit, geht nicht nur der ethische Kompass verloren, auf den wir uns berufen. Sondern Chaos, Willkür und Beliebigkeit halten dort Einzug, wo ein Mann plötzlich Frau sein darf – und umgekehrt. Der Verwirklichungsdrang manch eines Extrovertierten kann keine Begründung sein, weshalb wir von evolutionären Unmissverständlichkeiten Abstand nehmen sollten. Es gibt gewisse Konventionen für ein feststehendes Kollektiv, die sich auch durch den Progressivismus nicht negieren lassen. Und so ist es in diesen Tagen eine Entwicklung von Vernunft und Einsicht, dass sich eine Mehrheit nicht mehr dem Narrativ unterwirft, wonach unsere Nationalfarbe Pink ist – und die offizielle Flagge dieses Landes als Regenbogen daherkommt. Stattdessen hat die Europameisterschaft gezeigt, dass sich eine neue Entschlossenheit und Überzeugung für das Bewahren von festgelegter Tradierung, Prägung und Identität durchsetzt – welche der Hypersensibilität eines politisch korrekten Lobbyismus eine klare Absage erteilen, der mittlerweile auch diejenigen für sich zu vereinnahmen versucht, die sich explizit nicht als Anhänger der LGBTIQA-Mentalität verstehen. Sondern – wie auch ich – als Homosexueller Intimitäten für sich behalten wollen, statt sie auf unsäglichen Paraden der Skurrilität und Obszönität demonstrativ nach außen zu tragen. Viel eher geht es auch um die berechtigte Sorge, dass die zahlreichen Errungenschaften der Schwulen- und Lesbenbewegung durch die Degeneration des Fortschritts und eine Umkehr des Sozialisationsprozesses in Gefahr geraten. Schließlich waren wir in Sachen Abbau von Berührungsängsten und Voreingenommenheit schon deutlich weiter – und sind nun einem neuen Misstrauen untereinander ausgesetzt, welches angesichts der entfesselten Pietätlosigkeit nur allzu nachvollziehbar und plausibel ist.
Denn wir können es uns als Gefüge mit einem gewissen Standard an Schicklichkeit nicht länger leisten, auf unseren Straßen Lack, Leder und Nacktheit als Normalität hinzunehmen. Eine derartige Rückentwicklung in steinzeitliche Verhältnisse bringt sämtliche Vorurteile und Ressentiments zurück, mit denen auch jene stigmatisiert werden, die ihr Privatsein völlig ungestört leben möchten – und ihre Liebespräferenzen niemandem auf die Nase binden wollen. Denn im Gegensatz zu Genderisten und Queeristen definiere ich mich in erster Linie als Mensch – und nicht als ein Wesen, das in einer endlosen Sinnsuche auf dem Meer der Pluralität wohl nie auf einen Hafen zusteuern wird, in dem man vor Anker gehen kann und einen entsprechenden Seelenfrieden mit sich findet. Was die Einen als ein Korsett der Fixierung und Festlegung auf ein in nahezu jeder Konstellation ab der Geburt eindeutig erkennbares Geschlecht begreifen, erwarten die Anderen als eine Bezugsgröße in der regelbasierten Gemeinschaft, die nur dann funktionieren kann, wenn eine gewisse Bereitschaft zur Integration besteht. Es ist zweifelsohne eine Zumutung für das Gros an Mitbürgern, sich von einer Unterzahl die Realität diktieren zu lassen – welche sich in ihrer transhumanistischen Überheblichkeit und leistungsbiografischen Insuffizienz zur Überwindung von Naturgesetzen in der Lage sieht. Der nach außen gespielte Hochmut, sich auf eine Ebene mit Gott setzen zu können, fußt auf einem ziemlich aufgeplusterten Eigenbewusstsein, das im Zweifel wie ein Luftballon in sich zusammenfällt. Wer sein inhärentes Scheitern allerdings kompensieren möchte, sollte bedarfsweise auf die psychotherapeutische Couch verwiesen werden. Denn es kann nicht die Aufgabe eines täglich zu wiederentdecktem Stolz neigenden Verbundes sein, beharrlich für all jene Verständnis zu zeigen, die sich bis zur Selbstaufgabe um ihre Bestimmung winden wollen. Eine Mannschaft wird nie am Ziel ankommen, wenn sie sich im Respekt vor den Belangen der dramaturgischen und theatralischen Egozentriker verliert. Immerhin wartet der Rest der Welt nicht auf die Unentschiedenen, sondern macht die Originalität zum Maß aller Dinge.