Alexander Tuschinski, privat

Ein sprachliches Kunstwerk über die Ambivalenz von Gesellschaft und Seele

Gedanken zu Alexander Tuschinskis Roman „Fetzenleben“ von Dennis Riehle

Was kann anstrengender sein als ein langatmiges Buch, das sich in ausgedehnten Sätzen über manch eine Seite hinwegzieht, an deren Ende der Leser fragt, ob man sie sich als wulstigen, aber inhaltslosen Lückenfüller nicht hätte sparen können. Und wie wohltuend ist da die Lektüre eines Werkes, das von Anfang bis Schluss in einer beispiellosen Prägnanz und Pointiertheit formuliert ist, ohne dem Titel auch nur einen Hauch an Klugheit, Weitsicht und Tiefe zu nehmen. Und so ist „Fetzenleben“ von dem in Stuttgart geborenen Alexander Tuschinski ein überaus anspruchsvolles, linguistisch schwergewichtiges, aber stets kurzweiliges Zeugnis enormer künstlerischer Schaffenskraft und gestalterischen Ideenreichtums. Unter Ausnutzung sämtlicher Register der deutschen Sprache und aller verfügbaren Stilmittel der geschliffenen Rhetorik, ist eine nachdenklich machende, gleichsam amüsante und in die Gräben von Beziehungen eindringende Glanzparade gelungen.

Nicht nur die Verführung als ein Symbol des anthropomorphischen Erlebens von Sehnsucht nach Begehren, Risiko und Seitensprung nimmt einen großen Raum in der gesamten Abhandlung ein. Ebenso wird die Bedrohlichkeit der Affäre für eine Partnerschaft, aber auch der Bruch von Erotik und Anziehung thematisiert. Unsere Existenz als ein Dasein in verschiedenen einzelnen Mustern und Stückwerken, die sich nicht immer ideal zu einem Gesamtkonstrukt vereinbaren lassen, führt uns durch die Höhen und Täler, in denen wir Entscheidungen treffen müssen, die nicht nur für Status und Stand von einer grundlegenden Bedeutung sind. Dem Autor ist es gelungen, ein wesentliches Motiv für die gegenwärtig so favorisierte Ungebundenheit vieler Leute zu eruieren, die in Jahren wachsender Weltoffenheit manch Normativität und Sittlichkeit über Bord werfen. Gleichwohl lässt der an der Universität Stuttgart und Hochschule der Medien studierte 36-Jährige keinen Zweifel daran, dass er die Freiheit nicht gänzlich absolut und universell betrachtet. Sondern ihr durchaus in der Reflexion der handelnden Charaktere im Drama manch ethische Kritik vorzuhalten bereit ist, die sich aber nicht als moralischer Zeigefinger erhebt.

Für seine Gesellschaftskritik bekannt, ist der auch als Musiker engagierte und mit einer Vielzahl von internationalen Preisen honorierte Filmregisseur, Historiker und Literat auf der beständigen Suche nach beachtenswerten und unterschätzten Entwicklungen in unserem Miteinander, die zu großer Spaltung in einem kollektiven Gefüge beitragen können. Und deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der rote Faden in seinem vorliegenden Roman gegen Ende durch das Thema Krieg und Frieden zieht. Diese Erschütterung und Katharsis stellen im weiteren Verlauf ein Kontinuum in jener Bipolarität dar, in der sich die Protagonisten gleich wiederholt um einen Ausgleich zwischen Exzess und Ekstase auf der einen Seite, Verlust und Kurzlebigkeit andererseits, mehr oder weniger erfolgreich bemühen. Ausgleich für diese Schwankungsbreite und Schnelllebigkeit findet der Betrachter in dem mit Zitaten und Zeichnungen erweiterten Text durch eine Reihe markiger Anaphern, Holophrasen und Ellipsen, die eine stakkatoartige Wirkung entfalten – und dem Rezipienten Aufmerksamkeit abverlangen.

Der mithilfe von Interpunktion herbeigeführte Unterbruch des beständigen Zeilenflusses markiert die Zerrissenheit der auftretenden Personen, die den Außenstehenden durch eine lediglich latent hervorscheinende Erzählweise ein Stück weit auf Distanz halten – um ihn aber gleichzeitig mit fundamentalen Fragestellungen nicht nur zum Mitdenken, sondern auch zum Antworten anzuregen. Was zunächst wie eine Ansammlung kontextlosen Vokabulars daherkommt, entpuppt sich als eine für die Schauspielerei ideal zu verwirklichende und intellektuell maximal ambitionierte Akzentuierung. Wer ihr folgt, wird sich vom Rausch individueller, zivilisatorischer Gelüste über Gipfel und Gewalten bis zum poetischen Spannungsbogen von Euphorie bis Hysterie, zwischen Renommee und Klischee, entlang Egoismus bis Pazifismus vorarbeiten – um schließlich und endlich zu bilanzieren, dass es des Menschen Evolution bis zum Bersten reizt, ihn mit Balance und Verhandlung zur Disziplin zu rufen.

Kontakt: Alexander Tuschinski betreibt eine Webseite unter www.alexander-tuschinski.de und ist auf der Plattform X über den Account @A_Tuschinski erreichbar.