Kommentar von Dennis Riehle
Das Runde muss in das Eckige! – Was nicht nur eine wichtige Regel im Fußball darstellt, entpuppt sich in der Redewendung als die Beschreibung einer modernen Mentalität, die die Objektivität an die Subjektivität anpassen möchte. Der Homo sapiens in seiner bisweilen durchaus begrenzten Verstandsmäßigkeit ist nicht mehr mit dem zufrieden, was die Natur an einem stabilen, etablierten und sich bewährenden Gefüge bereitstellt. Obwohl es seine Tradierung über die Jahrmillionen eindrücklich unter Beweis gestellt hat – und sich die schöpferische Perfektion nicht zuletzt auch in der Resilienz, Abwehrfähigkeit und Regulierungskraft immer wieder neu zeigt, ist es insbesondere die gegenwärtig grassierende Egomanie, mit der sich der Einzelne anmaßt, wesentliche Unverrückbarkeiten doch noch aus den Angeln zu heben.
In dieser grenzenlosen Überheblichkeit versteigt sich unsere Kreatur in die durchaus wahnhaft anmutende Idee der Gottgleichheit, welche ihn in die Fähigkeit, Legitimation und Position versetzen soll, natürliche Grenzen zu überwinden. Demut oder Ehrfurcht vor dem Gegebenen ist schon lange out. Stattdessen wächst der zunehmende Profilierungsdrang einer Spezies, der es in der Vergangenheit noch nie so schwergefallen ist wie heute, Rahmenbedingungen und Regeln anzuerkennen, die der Macher des Universums und unseres Planeten nicht ohne Grund installiert hat. So ist es das System der Binarität als verbindliche Geschlechterordnung, welches das Fundament und die Tragfähigkeit für eine größtmögliche Identifikation mit sich und der eigenen Gruppe darstellt.
Der Ansporn, Grenzen aufzuweichen und Definitionen kurzerhand für nichtig zu erklären, die entgegen der herrschenden Meinung unter den Genderforschern nicht vom Menschen fixiert, sondern von der Evolution zum Zweck der Orientierung, Maßstäblichkeit und Verlässlichkeit als Leitlinie zementiert wurden, entspringt dieser histrionischen Persönlichkeit an Phantasten, denen die Fertigkeit und Bereitschaft zur Konformität in einer sozialisierten Menge abhandengekommen ist, die die Individualität über die Kollektivität stellt. Möglich wird dieser Umstand allein durch eine in den westlichen Zivilisationen ad absurdum geführte Freiheit, welche unter dem ständigen Vorwand und der Moralkeule von Diskriminierung, Toleranz und Selbstbestimmung keine Grenzen mehr kennt. Und da lässt es auch eine sich sämtliche Totalitäten herausnehmende Wissenschaft nicht mehr vorschreiben, ob und wann sie an ethische Kipppunkte stößt. Selbige kennt sie nämlich lediglich mit Blick auf ihre ebenfalls voreingenommene Untersuchung des ausschließlich anthropogen verursachten Klimawandels.
Dass wir in einer Demokratie nicht mehr zulassen, Studien und Erhebungen eine allgemeine Kritikfähigkeit abzuverlangen – weil die Lehre einen absoluten Anspruch erhebt und ihn auch ohne Skepsis, Distanz und Murren zugestanden erhält -, ist allerdings unter dem Gesichtspunkt wenig überraschend, dass wir uns in einer Dekade der Wiederbelebung von Aristokratie und Cäsarismus befinden. Entsprechend gilt für manche Bereiche eine generelle Unantastbarkeit – beispielsweise auch für die sich von jeglichen ontogenetischen Prinzipien verabschiedenden Biologie, die sich nicht nur auf sittlichen Abwegen befindet. Viel eher lässt sie es mit einer ergebnisoffenen Weiterentwicklung zu, dass die über Generationen unumstößliche und selbstverständliche Realität eines mit der Geburt medizinisch und rational einwandfrei zugewiesenen Sexus zu einer Kann-Bestimmung normiert wird – welche es theoretisch von der Wiege bis zur Bahre zulässt, größtmögliche Flexibilität in der Definition zwischen und außerhalb der beiden Pole von Männlichkeit und Weiblichkeit zu erlauben.
Diese Philosophie der Unstetigkeit, Unbestimmtheit und Ungenauigkeit entlarvt sich als die tückische Begleiterscheinung einer Überzeugung der in diesen Tagen neu aufflammenden Geisteshaltung des Laissez-Faire, welche ihren zeitgeschichtlichen Höhepunkt in der 68er-Bewegung hatte, als man zu dem Trugschluss gelangte, in der Erziehung der Kinder das Credo hochzuhalten, sich keinesfalls auf etwas festzulegen, wenn die inhärenten Befindlichkeiten und temporären Konstitutionen dagegen sprechen. Und so schippern wir heute nahezu endlos auf dem Ozean der Vielfalt – und suchen im Zweifel auch noch im Greisenalter nach unserer Identität und Echtheit. Ein Chamäleon blickt neidisch auf diese Wandlungsfähigkeit unserer Art. Immerhin lässt auch die Politik mittlerweile unverhohlen zu, dass wir jährlich im Pass eine neue Zuordnung vornehmen können – und damit jegliche öffentliche Übereinkunft verunmöglichen.
Es mangelt seither an einer Universalität, welche die Richtschnur für die Gemeinschaft und ihre Funktionsfähigkeit darstellt. Völlig abgesehen davon, dass es jemandem dauerhaft verwehrt bleibt, in einem Hafen der Kongruenz vor Anker zu gehen und Heimat zu finden – und damit auch einen Seelenfrieden mit sich und der eigenen Charakterlichkeit, dem Wesen und der Biografie schließen zu können, erweist sich eine Gesinnung der Plastizität, Variabilität und Agilität als schier unlösbare Herausforderung für ein Miteinander, in dem es an jeglichem gegenseitigen Vertrauen fehlt. Schließlich sind wir an einen Punkt gekommen, an dem wir nicht mehr genau wissen, wie wir unsere Nächsten ansprechen sollen – weil uns Pronomen wie xier, nin oder sif fremd sind. Im schlechtesten Fall befindet das Pendant im Augenblick der Ansprache wiederum in einem Transformationsprozess in Richtung eines Blumenkohls, einer Schreibtischlampe oder eines Kakadus – und lässt uns am Ende raten, was an Fiktion entstanden ist.
Welch gigantischer Schaden aus einer Manier der 360-Grad-Anpassung resultiert, sehen wir momentan an einer massiven Zerrüttung unseres gesellschaftlichen Vertrages über die Gültigkeit eines zweigliedrigen Verständnisses der Abstammung, welche sicherlich verschiedene Schattierungen und Abstufungen kennt. Allerdings ist der Konsens unaufkündbar, wonach jedem von uns eine chromosomale Dominanz innewohnt, welche sich zweifelsohne nicht durch Gefühle in Frage stellen lässt. Denn eine persönliche, einseitige und dogmatische Perspektive kann keine Grundlage für eine konventionelle Kultur sein, in der das Erfordernis und die Erwartungshaltung der Überzahl wegweisend für die Ausgestaltung des Standards ist. Der Fortschritt hat seine Limitierung dort, wo die oppositionelle Dickkköpfigkeit, das Zaudern und der Verwirklichungsdrang des Singulären den majoritären Usus auszuhebeln versucht.