Kommentar von Dennis Riehle
Es gibt manche Themen, die sind nicht nur zwischen zwei fundamental divergierenden Weltanschauungen strittig. Sondern sie spalten auch innerhalb von einzelnen Lagern. Und so ist es beispielsweise die Diskussion über die Bedeutung, Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von neu auf dem Tableau der politischen Wettbewerber auftauchenden Kräften – die sich anfangs nicht selten in einer Findungsphase darüber bewusst und im Klaren werden müssen, welche programmatischen Ziele sie vertreten. Im Vorfeld von Wahlen machen gerade die Etablierten Stimmung gegen diejenige Konkurrenz, welche es ihrer Meinung ohnehin nicht ins Plenum schaffen. Jede Stimme für die „Kleinen“ sei verloren, diese Ansicht vertreten sogar manche Politologen. Doch damit verkennen sie nicht nur deren grundgesetzlichen Schutz, sondern auch ihre Funktion als Kitt für die Demokratie, die weit über das Zugegensein als ein nutzloses Ventil für unzufriedene Bürger hinausgeht. Denn selbst Parteien, die den Einzug in Landesvertretungen oder den Bundestag gemäß Umfragen verpassen, haben nicht nur eine verfassungsrechtliche Legitimation, sondern auch keinerlei Grund zur Rechtfertigung. Jedes Kreuz auf dem Wahlzettel ist in Deutschland von gleichem Wert und Rang. Der Anspruch auf den Ausdruck des freien Willens des Souveräns garantiert die Würdigung und den Respekt vor jeglichem Urteil des Volkes. Es gibt keine sorgfältig begründete oder gar moralische Verpflichtung, bei der Abwägung über die individuelle Entscheidung auf Parteien zurückgreifen zu müssen, die in den Parlamenten bereits vertreten sind – oder die aufgrund von Prognosen über ihr voraussichtliches Abschneiden bei einem Urnengang die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Immerhin findet die für einen pluralistischen Staat so essentielle Opposition nicht nur in den legislativen Kammern statt.
Es ist aus meinem Verständnis unserer repräsentativen Herrschaftsform völlig falsch, die Fürsprache gegenüber im Aufbau befindlichen Konkurrenten mit einer noch überschaubaren Mitgliederzahl, einer eingeschränkten Präsenz in der Peripherie oder einem beständigen Resultat unterhalb der Einzugsgrenze in die gesetzgeberischen Gremien als vergeben anzusehen. Denn während der Nichtwähler mit seiner Abwesenheit am entscheidenden Sonntag einen inhaltslosen Protest gegen die Zustände im Land oder ein generelles Desinteresse am aktuellen Geschehen ausdrückt, formuliert eine Mehrheit derjenigen Bürger, die ihr Kreuz bei einer alternativen Partei abseits des eingefahrenen und abgeschliffenen Spektrums setzen, einen bewussten Entschluss für eine explizit definierte und bestimmte Politik des Unterschieds, um sich von Tradition und Gewohnheit abzusetzen. Gleichsam ist es auch wahltheoretisch unsinnig, von unnötigen Voten für frisch dazugestoßene Akteure oder gar einer hergegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten zu sprechen. In der Differenz zur Gruppierung derjenigen Menschen, die im Zweifel eher zuhause bleiben, als sich in der Kabine unmissverständlich zu positionieren und damit eine generelle Aussage über den Zustand des Verhältnisses zwischen Obrigkeit und Basis zu treffen, ist die Anzahl der Stimmen für im Wachstum befindliche Mitstreiter außerhalb der Schaltzentralen im hauptstädtischen Berlin nicht selten ausschlaggebend für die Mehrheitsverhältnisse in den Abgeordnetenhäusern. Je höher ihr Prozentanteil nämlich ausfällt, desto schwieriger und anspruchsvoller wird die Koalitionsbildung werden. Damit nötigt der Wähler eines nicht die Vertreterversammlung einziehenden Widersachers den innerparlamentarischen Kräften die Auseinandersetzung mit der eigenen, der Programmatik möglicher Partner und letztendlich auch den Forderungen und Positionen der außenstehenden Bewerber ab.
Kleinparteien besitzen grundlegende Elemente der Partizipation. Innerhalb ihrer Reihen ist die Möglichkeit zur Mitgestaltung durch den Einzelnen wesentlich größer als in jenen politischen Vereinigungen, die durch jahrzehntelanges Wirken im Establishment Verkrustungstendenzen aufweisen – und für einen Aufruf zu einem diametralen Richtungswandel kaum erreichbar sind. Ihre Überzeugungen sind zwar oftmals über lange Zeit in einem internen Prozess gereift, gleichsam aber auch derart verfestigt, dass eine Kehrwende mit ihnen einigermaßen aussichtslos erscheint. Ihr Kurs mag zwar stringent und in gewisser Weise absehbar sein, doch auch dort sind Überraschungen nicht ausgeschlossen. Das zeigt beispielsweise die Wankelmütigkeit der Christdemokratie, welche im Augenblick täglich zwischen einer Präferenz für die Grünen, das BSW oder die SPD hin- und herschwankt. Wer sich durch sie einen Wandel erhofft, wird wohl viele Dekaden warten müssen, ehe eine neue Generation möglicherweise zu einem Aufbegehren abgewetzter Standpunkte bereit ist. Ob CDU, SPD, Grüne, FDP oder DIE LINKE: Schlussendlich taugen sie durch ihre festgefahrene Trägheit nicht für Reformen und sind als relativ unbewegliche Elemente der systemischen Landschaft keine wirkliche Antwort und Alternative für die drängenden Fragen einer schnelllebigen und flexibel gewordenen Epoche. Wer kleineren und mittleren Parteien ihre Daseinsberechtigung abspricht oder sie als überflüssige Versuche der Mitbestimmung abtut, befördert eine oligarchische Abstumpfung des Kartells, welches dem Grundsatz der Auswahl und damit einem Kern der freiheitlichen Staatsausformung zuwiderläuft.
Dass gerade Vertreter der stets in den Parlamenten vertretenen Sesselkleber gegen die nachkommenden Kontrahenten wettert, erklärt sich mit einem Blick in die Umfragen vor den Urnengängen und in die Erhebungen zur Dynamik des Wahlverhaltens. Selten in der jüngeren Vergangenheit waren der Stimmenanteil und Zuspruch die „Sonstigen“ derart massiv wie im Augenblick. Zusammenfassend lassen sich die Beweggründe dafür besonders bei einer näheren Betrachtung der Wahlmotive der Menschen erkennen, die erstmals ihr Vertrauen in einen dieser unter ferner liefen abgekanzelten Kandidaten gesetzt haben: Einerseits handelt es sich bei diesem Klientel vornehmlich um junge Bürger, die tendenziell weniger Bindungskräfte aufweisen und stattdessen zum raschen Wechsel neigen. Andererseits favorisieren sie das Unbekannte, weil man ihm einen über das Maß bisheriger Veränderungen wie heißt denn der? hinausgehenden Fortschritt zutraut – der von Ideologie losgelöst und stattdessen pragmatisch, vernunftbezogen, praxisnah und von Alltagstauglichkeit geprägt ist. Gerade die fehlenden Berufspolitiker verhelfen ihm zu Glaubwürdigkeit. Denn einem überschaubaren Team traut man ein auf der Rationalität des einzelnen Verantwortlichen basierendes Handeln und Abwägen zu, das nicht auf strategische, taktische oder eigennützige Zwecke ausgerichtet ist. Viel eher agieren Funktionäre bei „Wir Bürger“, „Bündnis Deutschland“, „WerteUnion“ oder „Die Heimat“ unabhängig und aus der persönlichen Lebenserfahrung des kleinen Mannes heraus. Wer also solche wichtigen Scharniere in die Verdammnis schicken will, wird letztendlich von Sorge um den Verlust von Einfluss getrieben. Ohne die Existenz dieser Unkonventionellen wäre ein Ausbrechen aus konservativen Strukturen unmöglich. Sie sind Ort einer lebendigen und progressiven Fortentwicklung von Ideen und Konzepten, die über den Tellerrand hinausblicken. Und nicht zuletzt lehren sie denen das Fürchten, die sich in ihrem Glauben an immerwährende Majorität allzu selbstverständlich fest im Sattel der Macht sehen.