Kommentar von Dennis Riehle
Es muss nun ungefähr 20 Jahre her sein, da stand ich vor meinen Eltern und fühlte mich wie nach dem Gang in Richtung Canossa. Nach einem tiefen Luftholen setzte ich an: „Ich muss euch etwas sagen, ich…“. Viel weiter kam ich nicht, denn man unterbrach mich: „Du bist schwul, ich weiß doch, immerhin bin ich deine Mutter“. Für einen kurzen Augenblick war ich konsterniert, denn vor zwei Dekaden war das Bekenntnis zur Homosexualität noch deutlich öfter mit Angst und Furcht verbunden, gegebenenfalls sogar von der eigenen Familie ausgegrenzt zu werden. Dass es für mich keinerlei Grund zur Sorge gegeben hatte, das wurde mir spätestens während des weiteren Gesprächs mit meinen Angehörigen deutlich. Trotz aller gesellschaftlichen Vorbehalte schien man mit der gleichgeschlechtlichen Liebe im besten Falle auch deshalb deutlich unbeschwerter umzugehen als momentan, weil es damals ziemlich selbstverständlich war, die Präferenz für ein bestimmtes Gegenüber im Privatleben zu lassen. Für mich gehören meine nicht-existenten Bettgeschichten bis heute ins Schlafzimmer – und nicht auf bunten Paraden in die Öffentlichkeit, welche schon lange nicht mehr mit der Forderung nach mehr Respekt behelligt wird. Sondern man konfrontiert sie mit nackten Tatsachen, bedarfsweise zumindest kaschiert durch eine Windel, eine Schweinsmaske oder Lack und Leder. Es war der Moment, als die sogenannte LGBTIQ-Bewegung mit der Vereinnahmung für ihre Ideologie begann, welcher die Nerven aller vernunftorientierten Pragmatiker zunehmend auf die Probe stellte.
Denn wer den Uranismus wie eine Monstranz vor sich herträgt, um mit Provokation, Skurrilität, Absurdität und Perversität Akzeptanz erzwingen zu wollen, der muss sich letztlich nicht wundern, wenn die großen Erfolge der Aufklärung, zu denen auch die seinerzeit als Demonstration erkennbaren Christopher Street Days beitrugen, aktuell zunichtegemacht werden. Es ist für mich zutiefst beschämend, anwidernd und ekelerregend, wenn nicht mehr so ganz gestandene Mannsbilder auf ihrer endlosen Sinnsuche nach sich selbst in größtmöglichem seelischen Unfrieden und Inkongruenz evolutionäre Fortschritte auf dem Weg zur Sittlichkeit kurzerhand degenerieren. Und so habe ich natürlich viel Verständnis für all die Widerrede, die mittlerweile nicht nur aus dem rechten Spektrum geäußert wird, wenn sich eigentlich erwachsene Personen zu einem erneuten Schaulaufen zusammenfinden, das nicht nur jeglicher Normativität und Konformität entbehrt. Gleichsam beunruhigt mich eine zunehmende Instrumentalisierung der Gegenproteste durch eine erkennbar radikale Bevölkerungsklientel, die tatsächlich über den äußersten Rand hinabgerutscht ist – und eine Schattierung der Schöpfung als prinzipiell unnatürlich einstuft. Ich bin jemand, der die Demokratie als eine notwendige Zumutung betrachtet, Positionen im Zweifel bis zum Äußersten ertragen zu müssen.
Es gibt für mich lediglich ein Limit. Und das ist in Artikel 1 unseres Grundgesetzes verbrieft. Die Würde des Individuums, die für mein Verständnis dann relativiert wird, wenn eine gottgegebene Veranlagung als Ausgangspunkt für das Infragestellen von Integrität und Souveränität herangezogen wird, ist in meinem Welt unumstößlich. Der Wert des Anderen bemisst sich nach meinem Dafürhalten vor allen an seiner Charakterlichkeit, seinem Verhalten und seinem Verstand. Und deshalb werde ich auch kein Nachsehen dafür aufbringen, wenn nun all diejenigen mit den Queeristen über einen Kamm geschoren werden, die letztlich nichts Anderes wollen als jeder „Hetero“ – nämlich in Ruhe gelassen zu werden. Er rühmt sich nicht für ein Persönlichkeitsmerkmal, welches auch in der Reihenfolge meiner mich ausmachenden Definition ziemlich weit hintansteht. Denn ich habe mir mein homoerotisches Empfinden nicht ausgesucht. Und deshalb kann ich darauf auch nicht wirklich stolz sein. Stattdessen hege ich ein Ehrgefühl gegenüber Schwarz-Rot-Gold in mir – statt dem Regenbogen meine Unterwürfigkeit zu erweisen. Denn mich interessiert vor allem, was ein Kollektiv beziehungsweise jedes ihm angehörige Wesen aus dem Leben macht. Ich brauche keine Rüschen, um mir jeden Tag vor dem Spiegel gewahr darüber zu werden, dass ich mit der bisherigen Leistungsbilanz des Volkes und meiner Wenigkeit eigentlich recht zufrieden bin. Wir sind tatsächlich aus Ruinen auferstanden – allerdings hätte es dafür nicht die DDR gebraucht.
Und wenn ich für mich eine vorläufige Bilanz der bisherigen Biografie ziehe, dann erfüllen mich vor allem Resilienz, Standhaftigkeit und Courage, mit der ich trotz vieler Anfeindungen und schweren Erkrankungen nicht nur den heute äußerst schwierigen Beruf des Journalisten ergriffen und mein Verständnis seines Ethos nach bestem Wissen und Gewissen gegenüber den leitmedialen Haltungskollegen verteidigt habe. Sondern mir hoffentlich auch einen gewissen Stoizismus erhalten konnte, mich von manch einer gesundheitlichen oder zivilisatorischen Herausforderung nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Das sind für mich die tatsächlichen Güter, die bei der Subsumierung meiner Eigenart und Gestalt von Belang sind. Dagegen bleibt es einigermaßen unerheblich, dass ich mich eher vom Maskulinum angezogen fühle. Ich bin mir vollkommen darüber bewusst, dass Schwule und Lesben in einer Minderheit sind. Auch erkenne ich die von manch einem ewiggestrigen Nationalisten zum Vorhalt gemachte Tatsache der Biologie an, dass ich zumindest mit meinesgleichen keine Kinder für den Fortbestand unseres Volkes zeugen kann. Deshalb erscheine ich aber nicht weniger qualitätsvoll als der Single bleibende Alloiophile, der sich aus unterschiedlichen Beweggründen und freien Stücken gegen Nachwuchs entscheidet. Viel eher sehe ich mich in diesen Tagen angehalten, zumindest unter denjenigen Verständigung herbeizuführen, die sich nicht durch eine Extremposition selbst ins Abseits stellen. Wir sollten ihnen nicht die Deutungshoheit darüber lassen, was „normal“ ist – und was nicht. Denn ich glaube fest an den mehrheitlichen Grundkonsens, dass die Achtung, Schätzung und Ebenbürtigkeit jedes Menschen tatsächlich unantastbar ist.