Kommentar zum Artikel „Koalitionsvertrag: Vier Appelle an eine stabile Regierung“ (aus: „Tagesschau“ vom 10.04.2025)
Es ist ein Junge. Nein, ein Mädchen! Oder vielleicht doch etwas Diverses? Wie man trotz biologischer Wahrheiten heutzutage Probleme hat, das Geschlecht eines Kindes zu bestimmen, so schwer fällt es auch, einen passenden Ausdruck dafür zu finden, was gestern in Berlin geboren wurde. Die eine nennen es Koalitionsvertrag, die anderen eine Anleitung zum „Weiter so“. Großspurig verkündete Friedrich Merz, man werde in dem Regelwerk für die kommende Regierung vieles lesen, was niemand vermutete. Und weniger von dem, worüber im Vorfeld spekuliert wurde. Nach der Lektüre dieses äußerst anstrengenden Manuskripts komme ich persönlich zu der Erkenntnis, dass vor uns ein Schriftstück liegt, welches von vielen Unwägbarkeiten getragen ist. Schon in der Migrationsfrage hat uns der CDU-Vorsitz belogen, sprach er entgegen der Formulierungen in der Übereinkunft mit der SPD von einem nahezu „Beenden“ der illegalen Zuwanderung, statt sich an das wörtlich festgehaltene „Reduzieren“ der unberechtigten Einreise in die Bundesrepublik zu halten.
Viele Maßnahmen mit Blick auf Abschiebung und Rückweisung werden abhängig gemacht vom Wohlwollen europäischer Partner und der Auslegung bestehender Verfassungsartikel. Eine Asylwende wird es nicht geben, das hatte auch Lars Klingbeil betont, als er uns wissen ließ, dass es nicht überall Reformen benötige. Sondern nur dort, wo es richtig ist. An welchen Stellen also fortan verkrustete Strukturen aufgebrochen werden, entscheidet offenkundig der Genosse. Weitere Höhepunkte im künftigen Miteinander sind die Verfolgung von Hass und Hetze, von falschen Tatsachenbehauptungen und Desinformation. Es wird spannend, zu beobachten sein, wie all diese schwammigen Ausdrücke in Gesetze gegossen werden. Bei der Transformation vertraut man auf Kontinuität. Wenngleich die Industrie entlastet werden soll von der Bürde des Klimaschutzes, wird vor allem der kleine Mann weiterhin für schlechtes Wetter blechen müssen. Die innere Sicherheit soll den Fokus wesentlich auf die vermeintlichen Gegner der Demokratie richten, also alle Andersdenkenden der AfD.
Denn auch, wenn man vorrangig die Meinungsfreiheit schützen will, hat man ihr in Wahrheit den Kampf angesagt. Durch längere Speicherung von IP-Adressen trägt man nicht zur Vorbeugung von Terrorismus bei, sondern ermöglicht eine leichtere Strafverfolgung von Schwachkopf-Beleidigern. Steuererleichterungen werden auf den Sanktnimmerleinstag verlegt, wie die sozialen Sicherungssysteme liquide bleiben sollen, lässt sich durch den alleinigen Willen zur Patientensteuerung im Gesundheitswesen und eine bisher nicht näher definierte Überführung des Bürgergeldes zurück in eine Grundsicherung kaum beantworten. Platz bleibt weiterhin für Entwicklungshilfe, für Aufrüstung und eine freiwillige Wehrpflicht. Was den Rest der 146 Seiten angeht, so könnte man glatt auf die Idee kommen, es handele sich um Plagiate aus dem letzten Jahrzehnt. Einen großen Wurf erwartete vom Angola-Bündnis niemand. Dass den Protagonisten der Ball bereits beim Ausholen aus der Hand fiel, mag passieren. Schließlich sind Rohrkrepierer mittlerweile typisch deutsch.
Autor: Dennis Riehle