Quelle: Clipdealer.de, B474647084, erworbene Standardlizenz.

Aus den Wittenberger Thesen für das Heute lernen: Luthers Rückgrat kann Beispiel für jeden Rebellen sein!

Kommentar von Dennis Riehle

Während die Einen am 31. Oktober nach Süßem oder Saurem rufen, erinnert ein immer kleiner werdender Teil der Bevölkerung am heutigen Tag an die Reformation. 1517 hatte Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen. Und damit nicht nur eine Spaltung der Kirche eingeläutet, sondern ein gänzlich anderes Verständnis vom Christsein. Doch die Postulate des Theologieprofessors hatten nicht nur Auswirkungen auf die Aufklärung und Sozialisation unserer Gesellschaft im geistlichen Sinne. Man kann viele von ihnen auf die gestaltende Politik, das herrschaftliche Entscheiden oder das judikative Urteilen übertragen. Seine Abwendung von der Dogmatik hin zu den Ursprüngen und Wurzeln ist gerade in der Gegenwart bedeutsamer denn je. Er ermutigt uns zum Abstand von verkopfter Ideologie und zeitgeistiger Lehre – und fördert die Besinnung auf Prinzipien, Werte und Grundsätze, die als unverrückbarer Konsens die Identität eines jeden Gefüges ausmachen. In einem Rechtsstaat sind Paragrafen verbindlich – und nicht etwa die Definition von ungeschriebenen Regeln, die im Zweifel auch das sanktionieren, was unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegt. Verlässlichkeit bringt ausschließlich das, worauf wir uns ohne größere Diskussion einigen können. Subjektive Befindlichkeiten und Deutungen von etwaigen Vorstellungen und Visionen des Einzelnen, von Institutionen oder Behörden, sind nicht dazu geeignet, objektiver Maßstab, Orientierung und Halt für die Allgemeinheit zu sein.

Gemäß des Gedankens „sola scriptura“ besteht Konformität allein auf Basis von niedergeschriebenen Statuten, nicht aber in lediglichen Gepflogenheiten oder Eigenheiten einer bestimmten Gruppe, die sich als die Besseren darstellen – und deshalb für sich in Anspruch nehmen, nicht nur physikalische Ebenmäßigkeiten wie den marginalen Effekt des CO2 auf unser Klima nach individueller Angewohnheit neu zu interpretieren. Sondern bedarfsweise sogar die Demokratie samt des Wählerwillens oder die Evolution mit ihrer Binarität der zwei Geschlechter in Frage zu stellen. Ein weiterer Standpunkt galt dem Credo „sola fide“. Wir werden unsere Vollendung nicht durch hehre Werke erreichen. Viel eher ist es das Festhalten an Glaube, Ethos und Verstand, die uns unter anderem bei der Migration von einer ad absurdum geführten Utopie der grenzenlosen Nächstenliebe loslösen sollten. Denn nicht einmal die Bibel formuliert eine absolute Hingabe gegenüber dem Fremden. Es ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das ein sogenanntes Vorrangigkeitsgebot auswirft. Demnach soll unsere Gnade durchaus an den Realitäten abgestuft werden. Denn während uns Gott mit unendlicher Zuwendung begegnen kann, sind die irdischen Ressourcen und Kapazitäten beschränkt. Deshalb muss unsere Aufmerksamkeit zunächst dem Ausgegrenzten in der hiesigen Gruppe gelten, ehe wir uns mit verbliebenen Ressourcen auch desjenigen annehmen, der in unserer unmittelbaren Nachbarschaft durch Verfolgung, Not und Existenzbedrohung auf Schutz und Obdach angewiesen ist.

Gutmenschlichkeit ist ein trügerisches Lügengebilde, weil sie nicht nur allzu schnell in Naivität endet. Sie fußt auf der Märchenerzählung, dass wir allen Erdenbewohnern noch zu Lebzeiten das Paradies aus Milch und Honig verheißen könnten. Da mag es noch so viele Tabubrüche wie jenen von Angela Merkel 2015 geben: Abseits von Fleißpunkten im Notenbuch des Messias bleiben Bemühungen um Gerechtigkeit und Heil für jeden ein schlichtes Luftschloss. Wenn uns etwas aus der Zwangsjacke der allzu raschen Vergänglichkeit befreien kann, dann ist es die Gunst und das Wohlwollen mit uns selbst, wie uns auch das „sola gratia“ des Augustineremits verrät. Schließlich werden wir dem Unbekannten nicht dadurch helfen, uns bis zur Unkenntlichkeit zu kasteien. Lediglich jener, der auf sich und seine Akkus achtet, scheint langfristig in der Lage, zumindest den tatsächlich Bedürftigen als eine Stütze zu dienen. Wer mit sich nicht im Reinen ist, weil er ständig damit bemüht scheint, einer grünlinken Doktrin die Aufwartung zu machen, vergisst einerseits die Notwendigkeit der Eigenfürsorge. Aber wir geben auch Vernunft und Pragmatismus preis, falls wir einem Ideal hinterher jagen, welches auf Theorien, Konzepten und Plänen beruht – ohne dabei mit der Wahrheit kompatibel zu sein. Da ist es die Vorstellung eines ökologisch nachhaltigen Globus, die beim anfänglichen Blick wie eine lobenswerte Zielrichtung erscheint, aber nicht erst dann zum Rohrkrepierer wird, wenn sie Robert Habeck bis zum Exzess durchzuziehen droht.

Wir machen uns abhängig von so vielen Stereotypen, Leitbildern und Modellen, die bisweilen wie eine Monstranz durch die Gegend getragen werden – und damit einer Heiligenverehrung unterworfen sind, die nichts Anderes darstellen als abscheuliche Götzen. Auf dem Altar steht mittlerweile nicht mehr das Kruzifix, sondern der Fahnenhalter für die Regenbogenflagge. Wir versuchen, Ablasshandel zu betreiben, indem wir den Allmächtigen mit Vielfalt und Toleranz zu bestechen gewillt sind. Doch gerade dieses Feilschen, das zentraler Gegenstand jenes klerikalen Streits war, dessen wir heute gedenken, führt uns an den Abgrund. Weil noch immer viele Geschichtsvernarrte an einem Schuldenkonto für die dunkelsten Kapitel der deutschen Vergangenheit festhalten, dem wir wie einer Fuchtel unterworfen sind, trauen sich die progressiven, bunten und woken Pluralisten nicht zu dem Schritt, den Luther auf dem Reichstag in Worms ging. Auch ich werde keinesfalls widerrufen, wofür ich einstehe. Ohne das Benennen all der Fehlentwicklungen, die unser Land im Augenblick nimmt, wird es mir allzu viele Schwierigkeiten bereiten, in den morgendlichen Spiegel zu blicken. Es ist dabei unerheblich, welcher Parteifarbe ich meine Präferenz schenke. Doch insbesondere als Journalist stehe ich nach meinem Verständnis in einer besonderen Verantwortung, Missstände unverhohlen zu artikulieren – wie es auch die unterschiedlichen Rebellen und Revolutionäre in der Historie getan haben, die als Verräter und Ketzer abgestempelt und zu Freiwild erklärt wurden. Damals waren es Mönche, heute sind es einfache Bürger, die sich das legitime Recht herausnehmen, nicht nur an der Abstimmungsurne zu offenbaren: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“.

Ein Kommentar

Kommentare sind geschlossen.