Kommentar von Dennis Riehle
Wieviel Freiheit braucht ein Land? Gerade in Zeiten, die in mancherlei Hinsicht an ein Revival der DDR erinnern, wird man diese Frage wohl mit denjenigen gemeinsam beantworten, die 1989 genau für diesen Wert der Demokratie auf die Straße gegangen sind. Doch nicht jede Form von Liberalismus ist für eine Gesellschaft zuträglich. Deshalb gilt es gerade bei solch einem geflügelten Begriff, ihn auf die unterschiedlichsten politischen und Lebensbereiche differenziert anzuwenden. Schließlich wird es auch unter denjenigen Skepsis gegenüber moderne Trendentwicklungen geben, die sich ein deutliches Weniger an Staat, aber keine Zügellosigkeit bei Sitte und Moral wünschen. Denn wozu eine bis in den Exzess getriebene Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten führen kann, das beweist aktuell das Selbstbestimmungsgesetz unserer Ampel-Regierung, welches vordergründig die individuelle Entfaltung der Person garantieren soll. Doch dieser Schuss geht nach hinten los, wenn mithilfe einer Mentalität der unbedingten Toleranz und des uferlosen Respekts ein faktischer Zustand der Anarchie geschaffen wird. Ein Miteinander braucht einen bestimmten Anteil an Konformität und Normativität, um funktionieren zu können. Ohne eine verbindliche und verlässliche Richtschnur, an der wir uns alle gleichsam orientieren, landen wir am Ende in einer Gemeinschaft der größtmöglichen Entfremdung.
Immerhin scheint es aus der Perspektive von vor einigen Dekaden ziemlich undenkbar, dass wir an einen Punkt gelangen würden, biologische Wahrheiten zu negieren – und jedem das Recht einzuräumen, sein Geschlecht und seine Identität nach der jeweiligen Tagesform auszurichten. Wer das Gleichgewicht der Ansprüche von Kollektiv und Individuum außer Kraft setzt, der schenkt dem Idealismus des Einzelnen über Gebühr Beachtung – und riskiert damit den sozialen Frieden. Sobald wir nicht mehr in der Situation sind, mit Gewissheit feststellen zu können, ob nun ein Mann oder eine Frau uns gegenübersteht, verlagern wir die Realität von der Ebene der Fakten auf die Basis von Gefühlen. Nation, Wirtschaft und Bürger brauchen Luft zum Atmen. Deshalb ist es richtig, sie aus Zwängen, Bürokratie und Reglementierung zu lösen. Dass wir dabei aber in ein anderes Extrem rutschen, jede Definitionskraft von Wahrheit preiszugeben, um die größtmögliche Profilierungsneurose von Sinnsuchern zuzulassen, das dürfte nicht einmal im Sinne der Erfinder von Autarkie und Independenz gewesen sein. Ungebundenheit sollte nur dort gelten, wo sie dem Fortschritt des Gemeinwohls dient. Eine Entlassung aus der Verantwortung, die jedes Mitglied in einer Gruppe für Zusammenhalt, Kitt und Solidarität trägt, führt zu ihrem Scheitern, noch bevor sich ihre Symbiose ausgestalten konnte.
Deshalb bedarf es der Austarierung zwischen einer Leitkultur einerseits, die die Werte und Prinzipien eines gewachsenen, tradierten und geprägten Verbundes hochhält. Und Autonomie andererseits an jeden Stellen bis zum Höchstmaß einräumt, wo Kreativität, Innovation und Zukunft für alle generiert werden. Letztlich gilt es also, das Gebot der Eigenständigkeit nicht in Gutdünken übergehen zu lassen. Denn auf einem endlichen Globus sind wir im Zweifel auch wider Willen auf unsere Nächsten angewiesen. Daher ist die Gleichberechtigung zur Emanzipation automatisch an die Außenlinie der Privilegien meiner Umwelt gebunden. Wo das Dafürhalten des Einen mit der Befugnis des Anderen kollidiert, braucht es eine Verständigung, die wiederum auf anerkannte Unumstößlichkeiten angewiesen ist. In einem demokratischen Gefüge werden diese Paradigmen in einer Verfassung niedergeschrieben, welche zumindest jene Klarheit besitzt, in ihrem Grundgehalt von allen verstanden zu werden. Doch genau von dieser verpflichtenden Obligo entfernen wir uns in der Aktualität immer weiter. Mangelt es an der Endgültigkeit und Gewähr eines die Maxime und Statuten fixierenden Kanons, sind Chaos, Verwirrung und Aufruhr Tür und Tor geöffnet. Deshalb benötigt es eine Entfesselung des Wettbewerbs von Ideen und Tatkraft, aber ebenso das Einhaltgebieten drohender Willkür durch Politik und Lobbyismus.
[…] Zwischen Selbstbestimmung und Willkür: Die schwierige Balance der Grundrechte! […]